VALLE DI MUGGIO - ein genüsslicher Streifzug
Versteckt, verborgen und geheimnissvoll - das Valle di Muggio
Geheimnisvoll wirkt das Valle di Muggio, wenn der Nebel durch das Breggiatal zieht, über die steilen Grasflanken streicht und den Gipfel des Monte Generoso einhüllt. Es fällt nicht schwer sich vorzustellen, dass in diesem abgelegenen Bergtal im südlichsten Zipfel der Schweiz sich rätselhafte Geschichten abspielen könnten. Im Kriminalroman «Tessiner Verderben» berichtet Sandra Hughes von einem grausigen Fund in einer Nevèra und spinnt eine packende Geschichte über die verschiedensten Stationen im Tal. Kaum weicht aber der Nebel der Sonne, leuchtet das liebliche Tal in vollem Glanz. Der Blick vom Gipfel des Monte Generoso könnte eindrücklicher nicht sein. Und nicht im Geringsten stellt man sich vor, dass an diesem schönen Ort je einer Menschenseele Unheil zustossen könnte, schon gar nicht auf einer Genusswanderung durch die Ecken und Winkel des Tals.
Monte Generoso - ein gewaltiges 360° Bergpanorama
Der Monte Generoso thront über dem Mendrisiotto. Die gewaltige Aussicht des Gipfel reicht vom Piz Bernina, dem höchsten 4000er der Ostalpen, zu den Felsnadeln des Finsteraar- und Schreckhorns in den Berner Alpen, dann gegen Westen das Dach der Schweiz, die Dufourspitze mit 4634 m und das Monte Rosa Massiv. Über dem Aostatal türmt sich mit dem Gran Paradiso der äusserste 4000er Gipfel der Westalpen auf, bevor der Blick Richtung Süden bis weit in die Poebene reicht, wo die letzten Umrisse im Dunst verschwinden. Und fast senkrecht unter den Zehenspitzen schimmert der Lago di Lugano blaugrün.
Nostalgie und Moderne: Belle Epoque Dampfbahn und Mario Bottas Fiore di Pietra
Von dort unten in Capolago führt seit 130 Jahren eine Zahnradbahn über die steilen Berghänge hoch zum Gipfel, der damals wie heute ein touristisches Magnet ist. Und noch immer dampfen zu bestimmten Zeiten die nostalgischen Züge den Berg hoch und lassen einen in die Zeit der Belle Époque Ende des 19. Jahrhunderts zurückversetzten. Aber auch die «modernen Triebwagen» versprühen dank den robusten Holzsitzen und dem Führerstand mit Hebel und Druckanzeigen einen Hauch Nostalgie. In einer guten halben Stunde windet sich der Zug über die steilen Bergflanken hoch. Die Steigung auf der 9 km langen Strecke beträgt maximal 14 %. Oben angekommen wird man von Mario Bottas monumentaler Fiore di Pietra begrüsst. Kühn sitzt dieses architektonische Meisterwerk auf einer Felskanzel vor dem Abgrund. Die lichtdurchfluteten Innenräume mit den grossen Glasfronten sind ein wunderbarer Ort, um auch bei Wind und Wetter auf dem Gipfel zu verweilen, die eindrückliche Bergwelt zu bestaunen und natürlich sich kulinarisch verwöhnen zu lassen.
Die Nevère – Rundhäuser wie Kühlschränke
In der Hochsaison kann es auf dem Gipfel des Monte Generoso hektisch werden. Es sind aber nur ein paar wenige Schritte auf einem der Wanderwege und schon kehrt Ruhe ein. Die Möglichkeiten sind zahlreich, so zum Beispiel über die Grenze nach Italien oder über die Grashänge hinunter zur Alpe Nadigh. Diese typische Tessiner Alp sitzt wunderschön auf der Krete Richtung Roncapiano. Und so beginnt die Geschichte im Krimi. Herr und Frau Gruner haben denselben Weg eingeschlagen mit dem Ziel, eines dieser Nevère zu besuchen. Das hätte der Höhepunkt des Ausflugs werden sollen. Stattdessen erblickte Herr Gruner beim Aufstossen der alten Holztüre zur Nevèra eine Leiche auf dem Grund des Rundhauses. Zum Glück ist die schauderhafte Geschichte nur erfunden und ein Besuch der Nevère ist unbedingt zu empfehlen und birgt in der Regel keine Gefahr von Überraschungen. Von aussen erkennt man nur die Hälfte des Rundhauses. Dieses reicht nämlich mindesten so tief in den Boden wie es hoch ist. Und das nicht ohne Grund. Im Winter wurde der Schnee durch die Türe ins Haus geschippt. So füllte sich der «Keller» bis zum Frühling auf. Da die Schneeschicht im Sommer nur langsam dahinschmolz, funktionierten die Nevère wie ein natürlicher Kühlschrank. Ein idealer Ort also um Milch, Käse und andere Frischprodukte kühl halten und lagern zu können.
Genuss im Albergo Diffuso, einem «verstreuten» Hotel in Scudellate
In Scudellate wird man auf der Terrasse der Osteria Manciana herzlich empfangen. Der Blick schweift das Tal hinaus in die Weite bei einem Glas Merlot, einem Teller mit Trockenfleisch und Wurst aus dem Tal und einem Stück Zincarlin, dem unter Feinschmeckern äusserst beliebten Käse der Region. Von hier werden die Gäste im Albergo Diffuso, dem «verstreuten» Hotel betreut. Mehrere Häuser im 15 Seelen Dorf sind mittlerweile Teil des Projekts, das initiiert wurde, um eine Vernetzung zu schaffen, die lokale Wertschöpfung und den nachhaltigen Tourismus zu stärken und dadurch die Abwanderung aufzuhalten. Ob gemütliches Familienzimmer oder exklusive Suite über zwei Stöcke, für jeden Wunsch und Geschmack ist gesorgt und so oder so, die Gäste werden kulinarisch verwöhnt mit fein schmeckenden Besonderheiten aus der Region.
Geschichten von Vogelfangtürmen, Schmugglern und Carabinieri
Die Landwirtschaft bot auch früher den Bewohnern im Tal nur ein karges Einkommen. Jeder noch so erdenklich steile Berghang wurde terrassiert, um eine Nahrungsgrundlage zu schaffen. Und noch immer waren es auch unkonventionelle Methoden, die das Überleben absichern mussten. Die Roncoli zum Beispiel, das sind Vogelfangtürme. Einer steht noch heute unweit von Scudellate, der Roncolo di Meri. Vom Turm aus wurden Zugvögel mit einem Köder ins Innere gelockt, um sie dann beim Herausfliegen in den an Bäumen gespannten Netzen zu fangen. Und auch wenn man es sich heute nur schwer vorstellen kann, linderten die Fänge den Hunger. Oder der Contrabande, das Schmuggeln von Waren über die nahe Grenze, erlaubte manch einer Familie einen Zustupf zu verdienen, der zum Überleben bitter nötig war. Noch in den 70er Jahren warteten die Schmuggler in Scudellate bis am Abend im Zollhaus das Licht erlosch, ehe sie sich auf den Weg Richtung ins italienische Erbonne machen konnten. Aber wehe dem, der in die Fänge der Carabinieri kam. Geschichten von dieser und jener Seite werden im Museum in Erbonne lebhaft aufgefrischt. Dass Erbonne erst Anfang des 17. Jahrhunderts dem damaligen Königreich Italien zufiel und es von italienischer Seite bis 1954 keine Zufahrt gab, wirkt dabei umso skurriler.
Tonnenschwere Mühlsteine angetrieben von der Breggia
Durch das Valle di Muggio rauscht die Breggia. Der Bergbach entspringt auf italienischen Boden am Monte d’Orimento und hat sich auf seinem Weg ins Mendrisiotto über Jahrtausende tief in die Kalksteinschichten eingefressen. Türkisblaue Becken wechseln mit kleinen Wasserfällen und Schluchten. Zwischen Cabbio und Bruzella stösst ein Seitenarm hinzu, der versteckt im Wald das Rad der Mühle von Bruzella antreibt. Mit viel Liebe wurde die Mühle wieder in Stand gestellt. Und sobald der Schieber gezogen wird, setzt sich die Mühle knarrend und gierend in Gang. Aus dem Trichter purzeln die Maiskörner des Rosso del Ticino, des typischen roten Mais, der ein weiteres Kulturgut des Tals darstellt und von Pro Specie Rara unterstützt wird, auf den Mühlestein und werden zu Mehl zerrieben. Natürlich kann das frische Mehl gleich vor Ort erworben werden sowie auch herrliche feine Mais-Cantucci. Und am allerbesten schmeckt die Polenta mit Ossobuco. Natürlich, in der gemütlichen Osteria Manciana in Scudellate.
Merlot del Ticino - die Weinberge des Mendrisiotto
Um eine Genusstour durch das Valle di Muggio abzuschliessen, lohnt sich eine Fahrt mit dem Fahrrad oder eine Wanderung zu Fuss durch die Rebberge des Mendrisiotto. Die Gegend am Ausgang des Valle di Muggio, die dank ihren nun sanften Hügeln am Fuss des Monte Generoso auch Toskana der Schweiz genannt wird, ist eine der bekanntesten Weinregionen des Tessins und der Schweiz überhaupt. Meist sind es kleine Weingüter, die ihren eigenen, charaktervollen und je nach Terroir unterschiedlichen Wein produzieren. Vorwiegend wird Merlot angebaut. Die Traubensorte, die sich als deutlich krankheits- und fäulnisresistenter erwies, wurde Anfangs 20. Jahrhundert eingeführt wegen des Mehltaus, der den Weinbau auch im Tessin fast zum Erliegen gebracht hätte. Immer findet man aber immer öfters andere Sorten wie Nebbiolo, Chasselas, Gamaret und viele mehr. Bei einem Besuch in der Cantina erfährt man direkt von den Winzern, was ihren Wein ausmacht und kann diesen natürlich auch degustieren.
Das Valle di Muggio als Museum
Das Valle di Muggio ist ein begehbares Museum: von der urtümlichen Natur des alpinen Voralpentals mit seinen unterschiedlichen Höhenstufen zu den kulturhistorischen Themen und Bauten bis hin zu kulinarischen Erlebnissen und Genüssen lässt sich das Tal mit allen Sinnen entdecken und erleben. Und genau diesen Ansatz fördert das Ethnographische Museum des Valle di Muggio, das beheimatet in der stattlichen Casa Cantoni in Cabbio einen Überblick über die Vielseitigkeit verleiht. Von hier lässt sich ausschwärmen in die zahlreichen Winkel und Ecken des Tals, um seinen Reichtum in all seinen Facetten zu erkunden. Im wahrsten Sinne ist eine Tour durch das Valle di Muggio eine kulturelle Grenzerfahrung.
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Genusswanderungen in der Schweiz
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